Written by 13:26 #E1NO, Fernwandern, Norwegen, Tourtagebuch • 22 Comments

[#E1NO] Durch die Finnmarksvidda

Olderfjord liegt zwar nicht direkt am E1, ist aber die einzige Einkaufsmöglichkeit in den ersten beiden Wochen, weshalb so gut wie jeder E1-Wanderer die sieben Straßenkilometer zum Porsangerfjord in Kauf nimmt, auch weil man dort wieder einmal duschen und in ein Restaurant gehen kann.

Damit wäre die Infrastruktur von Olderfjord bereits hinreichend erklärt: Ein Campingplatz mit Gasthaus und Einkaufsmöglichkeit. Und Souvenirshop natürlich: Ein Bus voller Kärntner bleibt stehen – einer von zwei Österreicher-Bussen an jenem Abend. Eine Dame hält sich bei 26 Grad Außentemperatur verdächtig lang bei den Handschuhen auf. Plötzlich springt sie auf einen Verkäufer zu und hält ihm einen Handschuh unter die Nase. “Strickfehler!!”, fuchtelte sie wild gestikulierend – und zeigt auf einen, in falscher Farbe gehaltenen Quadratmilimeter. Den fragenden Blick des Verkäufers deutet sie so, dass er wohl von Stricken keine Ahnung hätte, weshalb sie ohne Umwege zu den Preisverhandlungen schritt.

5 Kilometer abseits dieser Szenerie kreuzt der Fernwanderweg E1 die Staatsstraße E6. Die E6 ist nicht irgendeine Straße, sondern DIE Straße, über die man von Südnorwegen 3000 Kilometer bis rauf zum Nordkapp und wieder herunter (und das ist nicht zwingenderweise die gleiche Streckenführung!) kommt. Ich werde mich die folgenden Tage in einer Gegend befinden, wo man sowohl nach Osten als auch nach Westen ca. 2 Tagesmärsche bis zur – hier bei Google Maps als Europastraße 45 bezeichneten – E6 braucht.

Der Wechsel von der Straße in die Tundra verlief nicht so reibungslos, wie ich mir das erhofft hatte. Entweder hat OpenStreetmap bei Sara (siehe Buchtipp unten), abgezeichnet, oder es war genau umgekehrt – was aber egal war, da beide GPS Daten gleich falsch waren und ich eine Weile gebraucht habe, um die Fortsetzung des Weges zu finden.

Kaum war der Einstieg gefunden und das Ende des (recht sumpfigen) Waldstückes erreicht, zeigte sich jedoch erfreulicherweise: Ab der E6 waren die Markierungen um VIELES besser.

Gleich die erste Etappe nach der Straßenüberquerung schlug sich mit ca. 35 Kilometern zu Buche. Da es die nächsten 130 Kilometer keine Hütte gibt, könnte man natürlich sein Zelt aufschlagen, wann immer es einem passt, aber ich habe die Zeltplätze als Tagesziel genommen, die Sara mir empfohlen hat. Allerdings wurde mir bald klar, dass ich mit Saras Tagesplan nicht so einfach mithalten kann, wir ich mir das wünschen würde. Ihr Kilometerschnitt liegt bei allen Etappen – ungeachtet von Flußquerungen, Sumpflandschaften und Moorfeldern – konstant bei 4 km/h und darüber, womit sie mit Respekt und Ehrfurcht zu den schnellsten Saras Skandinaviens hinzuzurechnen ist.

Doch ihre Zeltplatzvorschläge waren immer super. Gutes Trinkwasser in der Nähe, perfekter Untergrund, tolles Panorama.

Flussdurchquerungen kosten übrigens gar nicht so wenig Zeit – Schuhe wechseln, auf der anderen Seite wieder alles retour, 10 Minuten weg wie nix. Wegen ein paar Meter Bach. Aber ich hab’s trotzdem immer recht angenehm gefunden, erfrischend, hin und wieder aus den Wanderschuhen rauszukommen.

Da es in der Nacht vorher stark geregnet hat, war ich allerdings schon am Vormittag bis zum Bauch waschlnass, und das obwohl der Regen schon beim Aufbruch aufgehört hat.

Socken waschen kostete jedenfalls nie viel Zeit.

… und ein Fluss mehr oder weniger ….

… spielte da sowieso keine große Rolle mehr.

 

Ich hab einen Vogel

Seit Olderfjord begleitet mich Tinnitus.

Den Namen hat dieser Alpenstrandläufer von mir bekommen, nachdem er mir den zweiten Tag – und damit inzwischen schon mehr als 50 Kilometer – nachgehüpft ist und dabei etwa alle zwei Sekunden einen Schrei losgelassen hat, so wie eine Möwe ungefähr, nur VIIIIIEEEEEELLLLL schriller.

Wäre er nicht gewesen, würde ich sagen, hätte es in der Finnmarksvidda eine Woche lang genau _nichts_ zu hören gegeben.

Aber wirklich wissen tu ich’s nicht …. denn zwischen mir und der absoluten Ruhe stand Tinnitus. Und das letzten Endes 150 Kilometer lang: Da es die ersten 5 Tage keinen Wald, kein Haus oder sonst irgendetwas gab, wo ich mich seiner Bewachung entziehen hätte können, blieb mir nichts anderes übrig, als mich an seinem Gesang zu erfreuen. Er ist ein putzmunterer Morgensänger UND ein ausdauernder Abendsänger. Er KRRIEEEKT beim Sitzen, beim Herumhüpfen, beim Fliegen … pau – sen – los. Wenn ich um 6 Uhr morgens aus dem Zelt rausgeschaut habe, hat er mich das erste Mal angegurgelt, und wenn ich am Abend den E-Reader zur Seite gelegt habe, hat er sich noch immer heftigst über irgendwas beschwert.

Er war immer etwas mehr als einen Steinwurf entfernt.

Und das habe ich nicht nur einmal nachgemessen.

Jedenfalls habe ich mich schon sehr auf die Bojobæskihytta gefreut, denn dort wollte ich einen halben Faulitag einlegen – und deshalb, so meine Überlegung, würde ich Tinnitus nach 1,5 Tagen bei Verlassen des Waldstückes, welches die Hütte umgibt, wohl nicht mehr wiedersehen.

Fein war das – endlich wieder ein Dach über dem Kopf. Das klingt jetzt so unspektakulär, aber nach fast 2 Wochen beinahe ununterbrochener Sonnenbestrahlung Tag und Nacht, ohne einer Möglichkeit auf Schatten,  habe ich mich WIRKLICH schon sehr auf diese Hütte gefreut.

Die Hütte war superkomfortabel, mit WC im Nebengebäude, einem ergiebigen Bach wenige Meter von der Hütte entfernt und einem Gaskocher!

… weshalb ich mir gleich einmal ein superaufwendiges Essen gemacht habe: eine Eierspeise mit Rentierwurst und Käse.

Der norwegische Touristenklub DNT (–> “Alpenverein” wäre mit dem, was die Norweger vor allem in der Taillengegend ihres Landes an Bergen zu bieten hat, auch schwer OK, aber geologisch falsch) betreibt über 500 Selbstversorgerhütten. Man bekommt als Mitglied einen Schlüssel für diese Hütten und kann dann dort einkehren oder übernachten. In manchen Hütten gibt es sogar Lebensmittel im SB-Shop zu kaufen. Bezahlt wird die Übernachtung oder auch alles andere, wenn man wieder zuhause ist – per Überweisung. Eine Kassa vor Ort gibt es gar nicht, das System basiert auf Vertrauen.

Am nächsten Tag verlasse ich den Wald. Dem aufgeregten Gequieke von Tinnitus entnehme ich, dass er schon recht hart gewartet hat.

Ein besonders schöner Abschnitt wartet heute auf mich. Wäre ich noch agil genug, wie Sara durch die Tundra zu brausen, wäre ich am Abend schon in der bewirteten Mollisjok fjellstue …

– aber ich freunde mich in der Früh schon mit dem Gedanken an, dass ich das in meinem Alter nicht mehr zusammenbringe und bleibe deshalb noch bis Mittag in der Hytta, bevor ich mich überhaupt erst auf den Weg mache.

Es ist einfach herrlich hier.

Aber weiter vorne auch.

Am besten sieht man alles, wenn man sich ganz oben hinstellt.

Ich befinde mich inzwischen übrigens im Stabbursdalen, einem von 5 Nationalparks in Norwegen. Die Sami-Rentierzüchter bewirtschaften das gesamte Gebiet. Ich habe keinen einzigen Reindeerboy getroffen – überhaupt habe ich auf diesem Abschnitt des E1 in drei Wochen nur 5 Leute, alles Wanderer, getroffen. Naturgemäß sind die mir alle entgegengekommen, doch auch wenn man die 3 Hüttenbücher konsultiert, die es am Weg gab, war in meiner Gehrichtung auch seit einer Woche niemand unterwegs.

Den Rentierzüchtern verdanke ich, dass die Orientierung nun deutlich einfacher wurde. Lange Zeit folgt man den Spuren ihrer 4- oder 6-rädrigen All-Terrain-Fahrzeugen …

… oder den Rentierzäunen. Ein anderes Zeugnis ihrer Bewirtschaftung gibt es auch nicht – erstaunlicherweise übrigens auch keine Rentiere – und auch FAST keine anderen Tiere.

Im Nationalpark habe ich jedenfalls auch keine Rentiere gesehen, was überraschend war, da ich fast täglich – und oft über Stunden – einem Rentierzaun folgte …

… um dann wieder “der Straße nach” zu gehen”.

Zeltplätze zu finden war nicht so schwer.

… ob man sich auf grün oder auf braun betten will, kann man sich meist aussuchen. Der Boden war überall sehr angenehm, wirklich überall. Ich bin abends fast immer barfuß unterwegs gewesen, es gibt ja hier weder Insekten noch Steine – also zumindest nicht an der Oberfläche, die in der Regel von einem Flechtenteppich oder sonst einem niederwüchsigen Kraut überzogen ist.

Und überall war genug Platz für zwei.

Wenn es die Gelsen mir gestatteten, konnte ich am Abend vorm Zelt kochen.

Meistens habe ich gleich zwei Portionen gemacht, jetzt nicht wegen Tinnitus, sondern dass ich in der Früh nicht mehr herumpatzen brauche. Dann gab’s halt in der Früh kalte Makkaroni oder angenehm kühle indische Linsen.

Was meine Liebkinder, die Findlinge betraf, kam ich auch weiter im Süden auf meine Kosten – so einmal am Tag komme ich bei so einem “Wo kommt der denn her?” vorbei.

Tinnitus ist sowas aber nicht geheuer, er blieb in der Regel unter der Kniehöhe.

So, ein weißtgottwie spektakulärer Abschlusssatz fällt mir nicht ein, also beende ich dieses Bilderbuch mit einem Panoramafoto.

   

Buchtipp: Die schnellste Sara aller Zeiten hat ein sympathisches und perfekt recherchiertes, nicht nur einmal äußerst hilfreiches Buch über den nördlichsten Abschnitt des E1 verfasst. Uneingeschränkte Kaufempfehlung. Die Tageskilometer muss man sich halt selber zur Gehzeit hochrechnen/ausmultiplizieren (bei mir hat Faktor 3 recht gut gepasst.

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Schlagwörter: , , Last modified: 8. August 2022
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